Thomas Kuhn, 1922 – 1996

Thomas Samuel Kuhn, 18. 7. 1922 in Cincinnati/Ohio bis 17. 6. 1996 in Cambrigde/Mass

Thomas Samuel Kuhn

war ein US-amerikanischer Physiker, Wissenschaftsphilosoph
und Wissenschaftshistoriker. Er gehört zu den bedeutendsten Wissenschaftstheoretikern des 20. Jahrhunderts.

In seinem Hauptwerk The Structure of Scientific Revolutions beschreibt Kuhn die Wissenschaft als eine Folge von Phasen der Normalwissenschaft, unterbrochen von wissenschaftlichen Revolutionen. Ein zentrales Konzept ist hierbei das Paradigma; ein Paradigmenwechsel sei eine wissenschaftliche Revolution. Das Verhältnis von Paradigmen, zwischen denen eine Revolution liegt, bezeichnet Kuhn als inkommensurabel, was hier bedeutet: nicht mit dem gleichen (begrifflichen) Maß messbar.

Gefunden bei Spektrum.de

»Wenn man die Geschichtsschreibung für mehr als einen Hort von Anekdoten oder Chronologien hält, könnte sie eine entscheidende Verwandlung im Bild der Wissenschaft, wie es uns zur Zeit gefangen hält, bewirken.« Mit diesen Worten charakterisiert K. zu Beginn seines Buchs The Structure of Scientific Revolutions (1962, rev. 21970; Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1967, erw. 21976 mit Postskriptum von 1969) die ihn beim Studium der Geschichte der Wissenschaften leitende Intuition. Anders als die Wissenschaftsphilosophen im Umfeld des Logischen Empirismus (Rudolf Carnap) und des Kritischen Rationalismus (Karl Popper), welche methodologische und normative Fragen der wissenschaftlichen Forschung diskutierten und dem klassischen Bild von der Wissenschaft als einem kumulativen Fortschrittsprozeß anhingen, begreift K. die Wissenschaft als ein Unternehmen, welches nicht kontinuierlich zu einer Anhäufung von Wissen führt und sich zielgerichtet der endgültigen Wahrheit annähert, sondern ständig verschiedene Phasen durchläuft, die von Diskontinuitäten und Brüchen gekennzeichnet sind. Die Entwicklung der Wissenschaften stellt sich für K. als Evolutionsprozeß dar, wobei er die Ablösung alter Theorien durch neue Ansätze mit Hilfe des Begriffs der »wissenschaftlichen Revolution« beschreibt. Beim Studium der Wissenschaftsgeschichte entdeckte er, daß nicht nur wissenschaftsinterne Faktoren den Fortgang einer Wissenschaft beeinflussen und daß die Kriterien dafür, was als wissenschaftliche Theorie und was als unseriöse Forschung gilt, selbst historischer Natur sind. Den klassischen, korrespondenztheoretischen Begriff der Wahrheit hat er in diesem Zusammenhang einer umfassenden Kritik unterzogen. K. prägte Begriffe wie zum Beispiel »Paradigma« und »Inkommensurabilität«, die, obwohl sie bei K. allein auf die Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaft und in erster Linie auf die Physik zugeschnitten waren, in allen Bereichen des intellektuellen und kulturellen Lebens eine wichtige Rolle zu spielen begannen.

K.s Arbeiten veränderten mit einem Schlag die wissenschaftstheoretische Diskussion und führten zu einer historischen Wendeˆ innerhalb der Wissenschaftsphilosophie. Neben und im Anschluß an K. waren es Autoren wie Paul K. Feyerabend, Stephen Toulmin und Norwood R. Hanson, deren Überlegungen dazu geführt haben, daß sich heute die Wissenschaftsgeschichte als eigenes Fach etabliert hat. Bei seinen Überlegungen konnte K. auf eine ganze Reihe älterer Studien zurückgreifen: u.a. die Historiographie Alexandre Koyrés, die Entwicklungpsychologie Jean Piagets, die sprachphilosophischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins, Willard Van Orman Quines und Benjamin Lee Whorfs, die wissenschaftssoziologischen Studien Ludwik Flecks sowie die Arbeiten der Conant-Schule.

Während der 1940er Jahre studierte K. theoretische Physik in Harvard; noch vor Abschluß seiner Doktorarbeit wurde aufgrund eines intellektuellen Betriebsunfallsˆ sein Interesse an der Geschichte der Wissenschaften geweckt. Er besuchte einen Collegekurs über Physik für Nichtnaturwissenschaftler und stieß dabei auf die Aristotelische Physik. Obwohl K. 1976 schrieb, daß das Wort »hermeneutisch« vor fünf Jahren noch nicht zu seinem Sprachschatz gehört habe, begann er bereits während dieser Zeit die Fruchtbarkeit der Hermeneutik und ihrer Methoden für die Wissenschaft und ihre Geschichtsschreibung zu entdecken. Es war die Einsicht der Unvereinbarkeit des alten und des neuen physikalischen Weltbildes, des Übergangs von der ptolemäischen zur neuzeitlichen Physik, welche seine Auffassung vom Wesen der Wissenschaft und ihrer Entwicklung grundlegend modifizierte. Fast ein Jahrzehnt später widmete sich sein erstes Buch The Copernican Revolution (1957; Die kopernikanische Revolution) dieser Thematik. K. macht deutlich, daß mit der Veränderung der wissenschaftlichen Auffassung von der Welt eine Änderung des gesamten Weltbildes einherging, die nicht nur wissenschaftlichen Faktoren im engeren Sinne zu danken war, sondern auf komplexe Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Disziplinen wie etwa Philosophie, Astronomie und Physik und kulturellen bzw. religiösen Momenten beruhte. Von 1948 bis 1951 war K. Junior Fellow, von 1951 bis 1956 Assistent Professor in Harvard. Seit 1958 lehrte er als Professor für Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte an den bedeutendsten amerikanischen Universitäten, u. a. in Berkeley und in Princeton. Seit 1979 war er Professor am Massachusetts Institute of Technology. Im Sommer 1996 erlag er einem Krebsleiden. Neben seinem Hauptwerk publizierte K. eine Fülle von Aufsätzen zu wissenschaftstheoretischen und -historischen Fragen. Besonders hervorzuheben ist die 1977 zunächst auf deutsch publizierte Aufsatzsammlung Die Entstehung des Neuen (The Essential Tension, 1977). 1978 erschien das Buch Black-Body Theory and the Quantum Discontinuity, in der es um die Rolle Max Plancks innerhalb der Quantentheorie geht. Obwohl es sich hier um die erste umfangreichere wissenschaftshistorische Fallstudie handelt, die K. nach seinem Hauptwerk publiziert hat, macht er selbst nur einen sehr sparsamen Gebrauch von seiner eigenen, für die Beschreibung der Geschichte der Wissenschaften entwickelten Begrifflichkeit. Viele seiner Anhänger zeigten sich enttäuscht und sahen in dem Buch einen Rückschritt hinter einmal erreichte Einsichten. Muß man K.s Zurückhaltung als Indiz dafür werten, daß er selbst zunehmend an der Angemessenheit seiner Vorstellungen zu zweifeln begonnen hat? K.s neuere Arbeiten – so bereits das der zweiten Auflage des Buches Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen hinzugefügte Postskriptum von 1969 – widmen sich in erster Linie der Präzisierung seiner theoretischen Grundbegrifflichkeit, wobei es vor allem um die Begriffe des Paradigmas und der Inkommensurabilität geht. In späteren Jahren kam es zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit sprachphilosophischen Fragestellungen, zudem räumte K. selbst Übereinstimmungen zwischen seinen eigenen Überlegungen und denjenigen der von ihm zunächst kritisierten Vertreter des Logischen Empirismus, insbesondere Carnaps, ein. Tendenzen seines späteren Denkens lassen sich seinen Antworten in dem von Paul Horwich herausgegebenen Band World Changes. Thomas Kuhn and the Nature of Science entnehmen, mit denen er auf die dort gesammelten Beiträge reagiert.

Die Grundlage für das in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen entwickelte Bild der Wissenschaft bildet K.s empirischeˆ Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Forschung. Er untersucht, wie sich die Wissenschaftler zu unterschiedlichen Zeiten tatsächlich verhalten haben und wie sich die Entwicklung der Wissenschaften faktisch vollzogen hat. Durch das Studium der Wissenschaftsgeschichte belehrt, macht er darauf aufmerksam, daß es nicht nur eine einzige Form von Rationalität gibt, die für die Wissenschaften zu allen Zeiten verbindlich war, sondern daß der wissenschaftlichen Forschung zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Formen von Rationalität zugrundeliegen. Obschon diese Behauptung oftmals im Sinn eines Plädoyers für den Relativismus (Anything goesˆ) verstanden worden ist, welcher die Unterscheidung zwischen mehr oder weniger rationalen Theorien überhaupt preisgeben möchte und die Möglichkeit, Kriterien für diese Unterscheidung anzugeben, generell bestreitet, ist sie, worauf K. in seinen späteren Schriften mehrfach hingewiesen hat, nicht in diesem Sinn intendiert (z.B. in dem Aufsatz »Objektivität, Werturteil und Theoriewahl«, in: Die Enstehung des Neuen). Es gibt immer gute Gründe, eine wissenschaftliche Theorie gegenüber einer anderen vorzuziehen, auch wenn diese Gründe keine überhistorische Geltung beanspruchen können, sondern nur relativ zu einem vorgegebenen Gesamtrahmen gelten. In diesem Zusammenhang gebraucht K. den Begriff des Paradigmas, der in der Kuhn-Diskussionˆ eine ganze Reihe von Mißverständnissen auslöste.

Der Paradigmabegriff wird in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen in einer ganzen Reihe von Bedeutungen verwendet. In einem wissenschaftsinternen Sinn bezeichnet er mustergültige Problemlösungen, welche zum Vorbild der gesamten Forschung auf einem bestimmten Fachgebiet werden. Hier bezieht sich der Begriff auf allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten Modelle und Lösungen liefern. Neue wissenschaftliche Probleme werden dann so behandelt, als seien es speziellere Fälle anderer Probleme, für die bereits verbindliche und vorbildliche, beispielhafte Lösungen vorliegen. Als ein Beipiel unter vielen nennt K. in dem seinem Buch später hinzugefügten Postskriptum die Bestimmung der Ausströmgeschwindigkeit eines Wasserstroms durch Daniel Bernoulli, der sich bei seiner Lösung dieses Problems Christiaan Huygens’ Überlegungen zum Schwingungszentrum eines physikalischen Pendels zunutze gemacht hatte. In einem allgemeineren, philosophisch-historischen Sinn macht K. mit diesem Begriff darauf aufmerksam, daß auch die Wissenschaft Elemente enthält, die unbegründet bleiben und nicht weiter hinterfragt werden. Auf diese Weise trägt ein Paradigma dazu bei, die einzelnen Wissenschaftler mit einer Art von Glaubenssystem bzw. Weltbild auszustatten, das selbst nicht Ergebnis wissenschaftlicher Erfahrung ist, sondern seinerseits die Art und Weise, in welcher Wissenschaftler ihre Experimente interpretieren, bestimmt. Ein weitere, wichtige Bedeutung des Paradigmabegriffs ist soziologischer Art: Er bezieht sich auf die soziale Struktur einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, die durch die Orientierung an vorbildlichen Verfahren und Problemlösungen in einem normativen Sinn festlegt, was wissenschaftlich erlaubt ist und was nicht. Nur wer sich der allgemein anerkannten Verfahren bedient, wird als Mitglied der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannt. Schon der Student, der seine Wissenschaft anhand der jeweils aktuellen Lehrbücher lernt, wird ausschließlich mit einem allgemein verbindlichen Kanon wissenschaftlichen Wissens und wissenschaftlicher Methoden konfrontiert. Praktika, Übungen, die gerade einschlägigen Artikel der jeweils angesehensten naturwissenschaftlichen Journale, der gesamte Forschungsalltag im Labor sind in den Rahmen eines Paradigmas eingebunden und gewinnen ihren Sinn erst auf dessen Hintergrund. Die positive (oder negative) Beurteilung wissenschaftlicher Leistungen durch die wissenschaftliche Gemeinschaft hängt dabei stets von den durch ein Paradigma vorgegeben Rahmenorientierungen ab. Einzelne Kritiker K.s haben mitunter noch zahlreiche weitere Bedeutungen des Paradigmabegriffs ausmachen können und K. selbst beklagt später die Vieldeutigkeit seines Zentralbegriffs. In seinen seit 1969 erschienen Arbeiten unterscheidet er deshalb zwischen der »disziplinären Matrix«, womit er den Gesamtkonsens einer wissenschaftlichen Gemeinschaft bezeichnet und dem Paradigma im engeren Sinn des Musterbeispiels.

Im Rückgriff auf den Begriff Paradigma gelingt es K., ein evolutionäres Phasenmodell der Wissenschaftsgeschichte zu konzipieren. Er unterscheidet normale von revolutionären Phasen der Wissenschaftsentwicklung. Normale Wissenschaft wird von den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft dann betrieben, wenn ein allgemeiner Konsens über die grundsätzlichen Fragen und Methoden eines Wissensgebietes herrscht, dann, wenn sich innerhalb dieses Wissenschaftsgebietes ein bestimmtes Paradigma durchgesetzt hat. Freilich, auch die normale Wissenschaft muß sich erst entwickeln. Forschung in ihrer vornormalen Phase hat zumeist noch gar keinen eigentlichen Wissenschaftscharakter. In solchen Phasen konkurrieren eine Fülle von Ansätzen um Ansehen. K. nennt als Beispiel die Elektrizitätsforschung im 18. Jahrhundert, in der es beinahe soviele verschiedene Ansätze wie Experimentatoren gegeben habe. In den Phasen normaler Wissenschaft hingegen gehen die Forscher ohne große Aufregung ihren Alltagsgeschäften nach, sie bewältigen auftretende Probleme auf der Grundlage der durch ein Paradigma vorgegebenen Regeln. Neue Phänomene werden stets im Rahmen der akzeptierten Theorie behandelt. K. hat diese Tätigkeit auch als »Rätsellösen« bezeichnet und damit auf den spielerischen Charakter der Wissenschaft hingewiesen. Dem Normalwissenschaft betreibenden Wissenschaftler geht es letztlich nicht darum, zu einer wahren Abbildung der Wirklichkeit zu gelangen, sondern lediglich darum, auf der Basis vorgegebener Regeln die richtigen Spielzügeˆ auszuführen. Manchmal jedoch wird das Spiel gestört. Anomalien treten auf, die sich nicht mehr im Rahmen des gerade gültigen Paradigmas lösen und verstehen lassen. Die Wissenschaft gerät in eine Krise. Widersetzen sich die Anomalien lange genug einer Erklärung innerhalb eines Paradigmas, kommt es zu einer Revolutionˆ; ein neues Paradigma tritt an die Stelle des alten. Die wissenschaftliche Gemeinschaft beginnt, die Dinge anders zu sehen. Man hat zur Veranschaulichung von wissenschaftlichen Paradigmenwechseln auf den umstrittenen Vergleich mit dem Phänomen des Gestaltwechsels zurückgegriffen. Berühmte Beispiele für wissenschaftliche Revolutionen sind der Wechsel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild oder auch die Ablösung der Newtonschen durch die Einsteinsche Mechanik.

Das Verhältnis unterschiedlicher Paradigmen zueinander hat K. mit Hilfe des Begriffs der »Inkommensurabilität« gekennzeichnet. Ähnlich wie der Begriff des Paradigmas hat auch derjenige der Inkommensurabilität zu vielen Mißverständnissen Anlaß gegeben; zudem mischen sich auch in ihm eine ganze Reihe unterschiedlicher Bedeutungsnuancen. Ganz allgemein gesprochen werden der Inkommensurabilitätsthese zufolge zwei unterschiedliche Theorieparadigmen als unterschiedliche Sprachen aufgefaßt zwischen denen keine Übersetzungsmöglichkeit besteht. Verschiedene Paradigmen sind in diesem Sinn miteinander unvereinbare Standpunkte der Naturbeschreibung. Mit der Rede von der Inkommensurabilität macht K. darauf aufmerksam, daß die Differenzen zwischen verschiedenen Paradigmen oftmals begrifflichen Verschiebungen entspringen. Innerhalb eines neuen Paradigmas können bestimmte Begriffe eine ganz andere Bedeutung gewinnen. Als Beispiel mag man an den Begriff »Masse« denken. Während damit bei Newton eine konstante Größe bezeichnet wurde, geht man in der Einsteinschen Physik davon aus, daß »Masse« mit der Geschwindigkeit wächst. Diese semantischeˆ Bedeutung des Inkommensurabilitätsbegriffs hat K. insbesondere seit den 80er Jahren mehr und mehr dazu geführt, der Sprache selbst eine entscheidende Rolle bei der Strukturierung der Welt bzw. eines Weltbildes zuzubilligen (z.B. in dem 1983 erschienen Aufsatz CommensurabilityComparabilityCommunicability). Inkommensurabel sind verschiedene Paradigmen auch deshalb, da ihre jeweiligen Vertreter oftmals keine Einigung über die relevanten wissenschaftlichen Probleme und die Wege zu ihrer Lösung erzielen können. K. bemerkt, daß bereits ihre Normen und Definitionen der Wissenschaft so sehr voneinander abweichen, daß keine Übereinstimmung erreicht werden kann. In Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen bezog sich der Inkommensurabilitätsbegriff in seiner fundamentalen Bedeutung auf die Tatsache, daß ein Paradigmenwechsel die Welt verändert. Diese Redeweise ist selbstverständlich nicht in ihrem wörtlichen Sinn zu verstehen. Mit ihr weist K. darauf hin, daß der Wissenschaftler in der nachrevolutionären Phase in einer anderen Welt lebt, da das neue Paradigma ihm gänzlich neue Aspekte über das Universum mitteilt und er mitunter die Existenz ganz anderer Dinge unterstellen muß. Man kann in diesem Zusammenhang – ein Beispiel, welches der an der Physik orientierte K. nicht diskutiert – an die Entdeckung der DNS durch James D. Watson und Francis H. Crick denken. Diese führte nicht nur dazu, Methoden der molekularen Genetik auf allen möglichen Gebieten der Biologie anzuwenden, sondern die Natur unter ganz anderen Gesichtspunkten zu betrachten.

Obschon K. der Übertragung seiner Überlegungen auf andere Gebiete als dasjenige der Physik stets mit Zurückhaltung begegnet ist, verdankt sich die herausragende Wirkungsgeschichte seines Denkens insbesondere solchen Verallgemeinerungen. Vor allem den klassischen geisteswissenschaftlichen Fächern gab die K.sche Begrifflichkeit eine Handhabe, häufig anzutreffenden Minderwertigkeitskomplexen gegenüber der naturwissenschaftlichen Forschung zu entrinnen. Man hatte nun nicht nur ein theoretisches Vokabular, mit welchem sich gleichzeitig die Geschichte der beiden Kulturen abendländischen Wissens schreiben ließ, mehr noch: Ein gelernter Physiker selbst hatte darauf hingewiesen, daß auch in die Naturwissenschaften hermeneutische Elemente einwandern. So ist es kaum verwunderlich, daß der Begriff des Paradigmenwechsels eine reichhaltige Anwendung in der Philosophie und Soziologie (etwa bei Richard J. Bernstein oder Jürgen Habermas), in der Literaturwissenschaft (Hans Robert Jauß) und vielen anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen erfuhr. K.s Arbeiten wirkten innerhalb der Philosophie auch auf anderen Gebieten als der Wissenschaftstheorie; zu denken ist an die Realismusdebatte innerhalb der analytischen Philosophie (Hilary Putnams internen Realismus) sowie die Kontroverse um einen postmodernen Relativismus (Richard Rortys Plädoyer für einen pragmatischen Pluralismus). Galt K.s Werk, das auf eine weitgehend durch den logischen Empirismus und kritischen Rationalismus geprägte Diskussionslandschaft innerhalb der Wissenschaftstheorie traf, zunächst als subversiv, so gehört es heute zu den Klassikern der Wissenschaftsphilosophie. Innerhalb der Geschichtsschreibung der Wissenschaften hat es einer Diskussion den Weg bereitet, welche sich mehr und mehr von K. entfernt hat und seine Überlegungen an Radikalität überbietet: die feministische Wissenschaftstheorie Evelyn Fox-Kellers, die wissenschaftssoziologischen und -anthropologischen Arbeiten B. Latours oder Hans-Jörg Rheinbergers dem Dekonstruktivismus verpflichtete Theorie der Experimentalsysteme.